Schmusen, kuscheln, Doktorspiele und andere Entdeckungsreisen – Teil 1
Vor einiger Zeit durfte ich dazu einen Workshop halten. Ich bin sehr dankbar dafür.
Dankbar, weil ich mich nach langer Zeit wieder mit dem Thema „sexuelle Aktivitäten von Kindern in KiTas“ beschäftigen durfte. Dankber für die Teilnehmer*innen, die mir durch ihre Praxisbeispiele, einen tiefen Einblick in ihren Praxisalltag gaben.
Sehr dankbar bin ich dafür, dass die Teilnehmer*innen ihre Erfahrungen mit mir teilten. Für eure Rückmeldungen. Für die Reflexion, die der Workshop bei mir auslöste. Dankbar für weitere Zugänge zum Thema, die ihr mir gezeigt habt. Merci.
Trotzdem ist das Thema, wie gehe ich mit sexuellen Aktivitäten in der KiTa um, ein emotional beladenes und auch sehr herausforderndes Thema. Ein Thema, welches die Teilnehmer*innen sehr beschäftigt, wie ihre Fragen zeigten. Gemeinsam gingen wir diesen wertvollen Fragen nach.
Fragen, die hier beantwortet werden
- Was sind sexuelle Übergriffe?
- Wie gehe ich damit um?
- Wann sind diese meldepflichtig? bzw.
- Was ist meldepflichtig?
Was sind sexuelle Übergriffe? Woran erkennt man sexuelle Übergriffe?
Die Definition gibt erste Antworten:
Macht und Unfreiwilligkeit sind die zentralen Merkmale von sexuellen Übergriffen unter Kindern.
Für die Praxis bedeutet dies, sobald Zwang ausgeübt wird, es zu einem Machtgefälle kommt, handelt es sich um einen sexuellen Übergriff. Es gibt eine Sonderform des sexuellen Übergriffs: den Überschwang.
Sonderform: Überschwang
Beim Überschwang kann es passieren, dass eines der Kinder, die Entdeckungsreise, das Spiel so spannend findet und gar nicht mehr mitbekommt, dass das andere Kind, keine Lust mehr hat mitzuspielen bzw. aufhören möchte.
Wenn es dann die Signale des Kindes im Überschwang ignoriert, kann dies zu einem sexuellen Übergriff führen. Meist erschrickt das Kind, wenn ihm bewusst wird, dass es zu weit gegangen ist. Trotzdem bleibt es ein sexueller Übergriff, der pädagogisch begleitet werden muss.
Wodurch entsteht ein Machtgefälle?
Ein Machtgefälle entsteht durch:
- Alter
- Geschlecht
- Körperliche Kraft
- Beliebtheit / Anführer / Außenseiter
- Sozialer Status
- Intelligenz
In KiTas ist ein Machtgefälle oft durch den Altersunterschied gegeben. Ältere Kinder sind den jüngeren Kindern nicht nur durch ihr Alter überlegen, sondern auch körperlich (größer, schwerer) sowie durch ihre geistige Entwicklung.
Kinder, die erwachsenen Sexualität ausüben
Vaginaler, analer oder oraler Geschlechtsverkehr, der von Kindern ausgeübt wird, „schadet den beteiligten Kindern immer“ (Strohalm e. V., S. 25). Das praktizieren von erwachsener Sexualität stellt immer einen sexuellen Übergriff dar.
Strohalm e. V. listet die Bandbreite der sexuellen Übergriffe unter Kindern auf:
- Sexualisierte Sprache und Beleidigungen, verbale sexuelle Attacken, obszöne Anrufe
- Unerwünschtes Zeigen von eigenen Geschlechtsteilen (Exhibitionismus), Voyerismus und erzwungenes Zeigenlassen der Geschlechtsteile anderer Kinder, Aufforderung zum Angucken oder Anffassen
- Gezieltes Greifen an die Geschlechtsteile anderer Kinder, Zwangsküssen, „Eierkneifen“, „Nippelattack“
- Orale, anale, vaginale Penetration (Eindringen) anderer Kinder mit Geschlechtsteilen oder Gegenständen
Wie gehe ich damit um? Was gibt es für Schritte?
Wenn ein sexueller Übergriff stattgefunden hat, dann müssen alle Beteiligte einbezogen werden:
- Das betroffene Kind
- Das übergriffige Kind
- Die Eltern des betroffenen Kindes
- Die Eltern des übergriffigen Kindes
- Leitung
- Team/Kolleg*innen
- Kindergruppe
- Träger*in
- zuständige Jugendamt
Bevor jedoch einzelne Gespräche mit allen Beteiligten stattfinden, muss die Grenzverletzung bzw. der Übergriff gestoppt und benannt werden. Das bedeutet:
- klar, deutlich und persönlich Stellung beziehen
- das übergriffige Kind weder beschämen noch abwerten
- besonnen vorgehen.
Grundsätzlich gilt: Das betoffene Kind hat Vorrang. Immer.
Gespräche mit den beteiligten Kindern – Gespräch mit dem betroffenen Kind
Das betroffene Kind braucht Schutz und Unterstützung, Mitgefühl, Trost. Auch, wenn der sexuelle Übergriff aus Überschwang und nicht absichtlich geschehen ist.
Sexuelle Übergriffe können die betroffenen Kinder noch lange beschäftigen. Sie sind oft mit „Gefühlen wie Hilflosigkeit, Angst oder Wut“ (Maywald 2022, S. 107) verbunden. Im Einzelgespräch kann das Kind erzählen, was passiert ist.
Kontraproduktiv sind Sätze wie „Dazu gehören immer zwei“, „Was hast du denn getan?“ oder „So schlimm war’s doch nicht!“ (Strohalm e.V. 2023, S.35). Es geht jetzt darum, das betroffene Kind zu schützen. Es zu entlasten, indem der „Vorfall und das weitere Vorgehen“ (ebd. S. 37) zum Anliegen des Erwachsenen wird.
Gespräche mit den beteiligten Kindern – Gespräch mit dem übergriffigen Kind
Im nächsten Schritt wird das übergriffige Kind mit seinem Verhalten konfrontiert. Dazu beschreibt die pädagogische Fachkraft sachlich, präzise und klar das Geschehen. Damit hat das Kind die Möglichkeit seine Sichtweise der Situation zu erläutern und zu ergänzen. Wichtig ist, dass in dem Gespräch die „Glaubwürdigkeit des betroffenen Kindes nicht infrage gestellt wird“ (ebd. S.40).
Im Gespräch sollte deutlich werden, was die pädagogische Fachkraft von dem Verhalten hält. Zugleich soll das übergriffige Kind befähigt werden Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen.
Kontraproduktiv sind Fragen, wie zum Beispiel „Jetzt erzähl mal, was war denn da in der Kuschellecke los? oder „Was hat du da auf dem Klo gemacht?“ (ebd. S. 39) oder gar zu fragen „Warum tust du das?“ (ebd. S. 40). Diese Fragen sind nicht zielführend.
Sie bringen die Kinder meist zum Schweigen oder dazu sich zu rechtfertigen.
Auch Entschuldigungen sollten von den übergriffigen Kindern nicht verlangt werden. Eine Entschuldigung widerspricht dem Gefühl des betroffenen Kindes, weil damit nichts in Ordnung ist. Zudem suggeriert es dem übergriffigen Kind, dass damit dann alles wieder gut ist. Oft verbunden mit der Hoffnung „schnell in Ruhe gelassen zu werden“ (Maywald 2022, S. 107).
Ziel sollte es sein, dass das Kind sein Verhalten ändert, doch dazu braucht es die Unterstützung der pädagogischen Fachkraft.
Für beide Gespräche gilt: Je jünger die Kinder, desto kürzer die Gespräche.
Gespräche mit den beteiligten Eltern
Die Eltern des betroffenen Kindes informieren. Dies sollte zeitnah geschehen. Dabei sollte nichts beschönigt oder verharmlost werden. Es hilft den Eltern deutlich zu vermitteln, „dass der Schutz des Kindes sehr ernst genommen wird“ (Strohalm e. V. 2023, S.47), das weitere Vorgehen darzulegen, als auch die Maßnahmen, die bereits ergriffen wurden (vgl. ebd.).
Für Eltern des übergriffigen Kindes „stellt ein sexueller Übergriff eine enorme Belastung dar“ (ebd. S. 48). Im Gespräch sollten den Eltern keine Vorwürfe gemacht werden. Es geht vielmehr darum, sie mit „ins Boot zu holen“. Mit ihnen zusammen pädagogische Strategien zu entwickeln, die dem Kind helfen, sein Verhalten zu ändern. Damit es lernt, was „nicht erlaubt ist und anderen schadet“ (ebd.).
Elternabend
Möglicherweise haben auch andere Eltern vom sexuellen Übergriff erfahren. Möglicherweise werden Halbwissen, Gerüchte, Vermutungen in der Elternschaft ausgetauscht. Dadurch kann sich die Stimmung aufheizen. Maywald empfiehlt hier eine offensive Vorgehensweise. Zum Beispiel durch einen Elternabend.
Der Elternabend sollte zeitnah stattfinden. Es empfiehlt sich vorher fachliche Beratung einzuholen. Bevor der Elternabend stattfindet sollte sich das Team auf „eine fachliche Strategie einigen“ (ebd. S. 49). Am Elternabend selbst wird das das sexualpädagogische Konzept vorgestellt, „die Haltung zu sexuellen Übergriffen unter Kindern und die nach einem Übergriff .. vorgenommenen Schutzmaßnahmen“ (Maywald 2022, S. 109).
Leitung und Team
Im Team gilt es miteinander den sexuellen Übergriff zu besprechen und zu reflektieren sowie die Maßnahmen, die für das übergriffige Kind gelten. Denn diese müssen von allen konsequent eingehalten werden. Gleichzeitig gilt es das sexualpädagogische Konzept zu überprüfen. Eventuelle Schwachstellen aufzuspüren und nachzubessern.
Die Kindergruppe
In der Kindergruppe werden die Regeln zu den sexuellen Aktivitäten und Entdeckungsreisen nochmals besprochen. Gleichzeitig kann mit den Kindern auch besprochen werden, dass sie jederzeit Hilfe holen können. Hilfe holen ist kein Petzen. In diesem Zusammenhang kann man auch über gute und schlechte Geheimnisse sprechen.
Diese Gespräche dienen der Prävention. Die Kinder lernen auf der einen Seite, dass sie Hilfe bekommen und auf der anderen Seite, dass übergriffiges Verhalten nicht toleriert wird.
Träger und Jugendamt
Träger und Jugendamt rechtzeitig zu informieren versteht sich von selbst. Bereits bei der Entwicklung des sexualpädagogischen Konzepts sollte der Träger eingebunden, mindestens jedoch informiert werden.
Träger und Jugendamt zu informieren dient auch dem Schutz der Kita. In jedem Fall ist es besser, wenn Träger und Jugendamt von der Leitung über den Sachverhalt informiert werden, als wenn aufgebrachte Eltern dies tun.
Und was genau ist jetzt meldepflichtig?
In diesem Teil beziehe mich nur auf die sexuellen Übergriffe bzw. Grenzverletzungen. Dazu habe ich mich verschiedener Angaben aus Merkblättern bzw. Handreichungen von Jugendämtern bedient.
Das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen hat zur Meldepflicht nach §47 SGB VIII ein Merkblatt zu besonderen Vorkommnissen im Internet bereitgestellt. Danach sind u. a. folgende meldepflichtige Grenzverletzungen bzw. übergriffiges Verhalten meldepflichtig:
- „Körperliche Übergriffe / Körperverletzung
- Psychische / seelische Übergriffe
- Sexuelle Übergriffe / Sexuelle Gewalt (z. B. Freiwilligkeit der Doktorspiele nicht eingehalten)“ (S.2)
Die Stadt Augsburg hat ebenfalls eine Handreichung zur „Meldepflicht nach §47 SGB VIII über Ereignisse und Entwicklungen, die geeignet sind, das Kindeswohl zu beeinträchtigen“ herausgebracht. Die Stadt Augsburg geht detaillierter auf die meldepflichtigen Merkmale von sexuellen Überiffen ein. In ihrer Aufzählung finden sich u. a.:
- Körpererkundungsspiele (Doktorspiele) finden in einem Machtverhältnis und unfreiwillig statt
- Es liegt ein größerer Altersunterschied zwischen den Kindern vor (2 Jahre)
- Kinder werden zur Körpererkundung gedrängt oder überredet; es findet gegen den Willen des Kindes/der Kinder statt
- Gegenstände oder Finger werden in Po oder Vagina eingeführt
- Der Genitalbereich eines Kindes wird durch ein anderes verletzt
- Erwachsene Formen von Sexualität werden von Kindern praktiziert (bspw. Oralverkehr)
- Körpererkundungsspiele finden unter Drohungen und Redeverboten statt.
Mit ihrer Auflistung folgt die Stadt Augsburg der oben genannten Definition.
Damit wird meines Erachtens sehr deutlich, dass jegliche Form sexueller Übergriffe unter Kindern, meldepflichtig sind. Eine Meldung an das zuständige Jugendamt dient auch dem Schutz der Kita und zeigt nach Außen, dass die Kita ihren professionellen Auftrag des Kinderschutzes ernst nimmt. Diese Transparenz ist für alle Beteiligten wichtig. Sie schafft, trotz der Grenzverletzungen die passiert sind, Vertrauen.
Verwendete Literatur:
Hubrig, Silke (2014): Sexualerziehung in Kitas. Die Entwicklung einer positiven Sexualität begleiten und fördern. Weinheim: Beltz Verlag
Maywald, Jörg (42022): Sexualpädagogik in der Kita. Freiburg: Herder Verlag
Strohalm e. V. (2020): Kindliche Sexualität zwischen altersangemessenen Aktivität und Übergriffen. Hinweise für fachlich-pädagogischen Umgang.
Materialtipps
Das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald hat für seinen Landkreis eine „Orientierungshilfe zum Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern in Kindertageseinrichtungen“ herausgegeben. Sie beschreibt detailliert, wie sich sexuelle Aktivitäten von Kindern unterscheiden lassen. Danach werden die Schritte des professionellen Handelns zum Umgang mit sexuellen Übergirffen beschrieben. Eine durchaus informative Broschüre zum Thema.
Fußnoten
- Das hier dargestellte Fallbeispiel wurde von mir stark vereinfacht und stammt im Original aus Maywald 2022, S. 101 ↩︎
- Das hier dargestellte Fallbeispiel wurde von mir stark vereinfacht und stammt im Original aus Strohalm e.V. 2023, S.20 ↩︎
Fragen und Anmerkungen
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